Menschlichkeit in der Altenpflege

Antrag Menschlichkeit in der Altenpflege

SPD AG 60 plus
Unterbezirk Main-Kinzig

Antrag an den Unterbezirk Parteitag der SPD Main Kinzig

Der Unterbezirks Parteitag möge beschließen und an die zuständigen Gremien weiterleiten:

Thema: Menschlichkeit in der Altenpflege – eine Frage der Zeit

Bei der Begutachtung der Bewohner durch den Medizinischen Dienst der Krankenkasse (MDK) zur Festlegung der Pflegestufe werden bestimmte reale Pflege-Minutenwerte anerkannt. Der MDK bestätigt, dass ein bestimmter Aufwand zur Pflege des jeweiligen Bewohners notwendig ist!

Tatsächlich steht den Pflegekräften in stationären Einrichtungen jedoch nur etwa die Hälfte der Zeit zur Verfügung.
Dies macht eine menschenwürdige Pflege unmöglich.
Wir fordern daher, dass für die Pflege in den Stationären Einrichtungen den Pflegekräften  für die Pflege der Bewohner/Patienten genau so viel Zeit zur Verfügung gestellt wird, die sie vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen als notwendig festgestellt ist.

Zur Begründung:

Bei der Begutachtung der Bewohner durch den Medizinischen Dienst der Krankenkasse (MDK) zur Festlegung der Pflegestufe werden bestimmte reale Pflege-Minutenwerte anerkannt. Der MDK bestätigt, dass ein bestimmter Aufwand zur Pflege des jeweiligen Bewohners notwendig ist!
Pflegestufe
Minuten pro Tag gesamt
Davon Minuten Grundpflege pro Tag
Stufe 1
90 – 179
45 – 119
Stufe 2
180 – 299
120 – 239
Stufe 3
300 – …..
240 – …..
Allerdings muss man genau in den Text der Pflegebedürftigkeitsrichtlinien hineinschauen:
„ … Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger, Nachbar oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für alle für die Versorgung des Pflegebedürftigen nach Art und Schwere seiner Pflegebedürftigkeit erforderlichen Leistungen der Grundpflege, hauswirtschaftlichen Versorgung und pflegeunterstützenden Maßnahmen benötigt …
Dabei ist der Maßstab für die Bemessung des zeitlichen Mindestaufwandes in den einzelnen Pflegestufen eine durchschnittliche häusliche Wohnsituation.“
Kurzum: Es wird davon ausgegangen, dass ein pflegerischer Laie in häuslicher Umgebung soviel Pflegezeit benötigt. Der MDK geht bei unseren Pflegekräften von anderen Zeiten aus.
Diese Zeiten sind errechenbar. Hierzu kann die Entgeltvereinbarung, die unser Träger mit den Pflegekassen und dem Sozialhilfeträger geschlossen hat, weiterhelfen. Hierin werden sogenannte Pflegeschlüssel vereinbart. Zum Beispiel:
Pflegestufe
Pflegeschlüssel
Erläuterung
0
1 zu 12, 46
Auf einen Mitarbeiter kommen 12,46 Bewohner
1
1 zu 3,73
Auf einen Mitarbeiter kommen 3,73 Bewohner
2
1 zu 2,48
Auf einen Mitarbeiter kommen 2,48 Bewohner
3
1 zu 1, 86
Auf einen Mitarbeiter kommen 1,86 Bewohner
Hieraus kann man jetzt die von den Kostenträgern refinanzierten Zeiten berechnen.
In einem ersten Schritt rechnen wir den Pflegeschlüssel in Vollkraftanteile um:
Pflegestufe
Pflegeschlüssel
Vollkraftanteile
0
1 dividiert durch 12, 46
0,08
1
1 dividiert durch 3,73
0,27
2
1 dividiert durch 2,48
0,40
3
1 dividiert durch 1,86
0,54
Eine Pflegevollkraft arbeitet ca. 1900 Stunden im Jahr. Nach Abzug von Urlaub, Krankheit, Fortbildungen, etc. bleibt eine Nettozeit von ca. 1500 Stunden. Das ergibt in den einzelnen Pflegestufen:
Pflegestufe
Vollkraftanteile x Nettostunden
Stunden pro Jahr
0
0,08 x 1540
123
1
0,27 x 1540
416
2
0,40 x 1540
616
3
0,54 x 1540
832
Aus diesen Werten können nun durch die Division mit 365 Tagen die täglichen Werte berechnet werden, die eine Bewohnerein an Pflegezeit zukommen.
Pflegestufe
Stunden pro Jahr
Stunden pro Tag
Minuten pro Tag
0
123
0,33
20
1
416
1,14
68
2
616
1,69
101
3
832
2,28
137
Vergleicht man die errechneten Werte mit den Werten der Pflegebedürftigkeitsrichtlinie (PflRi), wird sehr deutlich, dass die Zeit, die eine Pflegekraft für die Versorgung eines Bewohners zur Verfügung hat, deutlich unter den bei der Einstufung zugrunde gelegten Werten liegt!
Pflegestufe
Minuten nach PflRi ohne Hauswirtschaft (Mittelwert)
Minuten pro Tag nach Pflegesätzen
0
0
20
1
45 – 119(82,5)
68
2
120 – 239 (180)
101
3
240 – bis unendlich (270)
137
Diese täglichen Minuten sind auf Früh-, Spät und Nachtschicht zu verteilen. Darüber hinaus sind neben der Grundpflege Zeiten für soziale Betreuung (BSD, etc.), Qualitätssicherung, Dokumentation und medizinische Behandlungspflege abzudecken, die nicht einzeln gerechnet werden.
Während also der Laie bei der Pflege in der häuslichen Umgebung für den Pflegebedürftigen der Stufe 2 pro Tag im Mittel 180 Minuten nur für die reine Grundpflege zur Verfügung hat, bleibt der Pflegekraft im Altenheim maximal 101 Minuten, in der sie zudem ihre Arbeit planen, dokumentieren und überprüfen muss. Die anfallende Zeit für Behandlungspflege (ca. 10 Prozent) muss ebenfalls innerhalb dieser Zeit erbracht werden.
In der häuslichen Umgebung konzentrieren sich alle Tätigkeiten auf eine einzige Person. Anders im stationären Bereich: Eine Pflegekraft kann nicht gleichzeitig bei mehreren Bewohnern sein, was neben Unfällen, Fehlern auch Unzufriedenheit bei den Bewohnern und Angehörigen vorprogrammiert. Während sie gerade einen Verband anlegt oder eine Bewohnerin vom Toilettenstuhl in den Rollstuhl trägt, kann sie nicht den Sturz einer verwirrten alten Frau zwei Zimmer weiter verhindern. Wenn zum Mittagessen zwei MitarbeiterInnen der Pflege bei insgesamt sechs BewohnerInnen Essen anreichen müssen, brauchen sie allein dafür mindestens jeder eine Stunde und können eigentlich(!) nicht gleichzeitig: das Telefon bedienen, Angehörigen ausführliche Auskünfte erteilen, Arztvisiten begleiten, nach mehreren Klingeln mit der Bitte um Hilfe beim Zubettgehen oder beim Toilettengang Hilfestellung geben.
Worin sich allerdings für mich das Unmenschliche der Altenpflege besonders zeigt, ist Folgendes: Schaut man sich einmal genauer die einzelnen Minutenwerte an, die bei bestimmten Tätigkeiten vom MDK standardmäßig zugrunde gelegt sind, um eine Pflegestufe zu ermitteln, so fällt auf, dass auch eine professionelle Pflegkraft kaum in der Lage ist, diese Leistungen wesentlich schneller zu erbringen als der Laie! Ein Beispiel: Bei einem schlaganfallbetroffenen alten Menschen werden zum Essen reichen 20 Minuten (Laie) zugrunde gelegt. Haben Sie eigentlich schon einmal nachgerechnet, wie lange Sie für das Mittagessen oder die Morgentoilette benötigen? Die Zeiten werden nicht wesentlich kürzer sein als die Minutenwerte des MDK. Wenn Sie als Laie ihrer Mutter das Essen reichen, glauben Sie wirklich, dass eine Pflegekraft unserer Einrichtung das deutlich schneller kann? Oder besser gefragt: Sollte sie es schneller können? Was ist, wenn ihre Mutter das Essen verweigert und abnimmt?
Sie merken: Menschlichkeit in der Altenpflege ist und bleibt eine Frage der Zuwendung und die kostet Zeit.
Viele Angehörige denken, dass für die Pflegekräfte im Heim die gleichen Zeiten zur Verfügung stehen, wie es über die Pflegestufe errechnet wird. Bei den Preisen, die eine Pflegeheimplatz kostet, kann man wohl auch davon ausgehen, oder?
Wie Sie aber gesehen haben, werden über unsere Pflegesätze eben nicht die für eine menschenwürdige Pflege erforderlichen Minuten refinanziert! Es dürfte klar geworden sein, dass unter den (zeitlichen) Bedingungen der stationären Altenpflege zwangsläufig Menschlichkeit auf der Strecke bleiben muss!
Hieraus ergeben sich für mich zwei Schlussfolgerungen:
1. Eine menschenwürdige Pflege im Alter ist sehr viel teurer als die betroffenen Menschen in der Lage sind zu finanzieren oder durch andere Mittel (z.B. aktive Mithilfe) auszugleichen. Sie ist zudem sehr viel teurer als gemeinhin angenommen wird.
2. Wenn wir in Zukunft eine menschenwürdige Pflege im Alter für unsere Angehörigen und uns selbst wollen, müssen wir bereit sein, mehr dafür zurückzustellen. Hierfür müssen unsere verantwortlichen Politiker gesetzliche Rahmenbedingungen herstellen.
Da aber die Forderungen nach mehr Eigeninitiative oder höhere Beiträge beispielsweise in die Pflegeversicherung (z.B.: statt 1,7 Prozent 3,4 Prozent) unpopulär sind, werden voraussichtlich nur noch wohlhabende Menschen durch private häusliche Pflege oder durch Zuzahlungen die Vorzüge einer menschenwürdigen Pflege genießen können.

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